frühgriechische Lyrik: Einzellied und Chorgesang

frühgriechische Lyrik: Einzellied und Chorgesang
frühgriechische Lyrik: Einzellied und Chorgesang
 
In der Moderne gilt die Lyrik als Dichtungsgattung neben dem Epos und dem Drama; in der Antike verstand man unter Lyrik das zu einem Saiteninstrument gesungene Einzel- oder Chorlied; nicht dazu gezählt wurden die Elegie (deren Begleitinstrument die Flöte war) und der Jambus, weil sie beide schon in der Frühzeit nicht gesungen, sondern nur rezitiert wurden. Gemeinsam ist allen diesen Dichtungen mit ihren verschiedenen Versformen, dass sie in einer von den Werten des Adels bestimmten Welt zu einzelnen Situationen und Problemen im privaten und politischen Bereich der Menschen wertend und weisend Stellung nehmen. Wir wissen von Vorformen vor dem Einsetzen der schriftlichen Überlieferung, von Liedern zu Ehren der Götter, zu Hochzeit und Tod und zur Begleitung der Arbeit. Zwar sind die Werke der frühgriechischen Lyriker zum großen Teil nur in Bruchstücken überliefert, doch erlauben diese zumindest skizzenhafte Charakterisierungen. Erhalten sind aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Fragmente der Jamben, Elegien und trochäischen Tetrameter des Archilochos von Paros, Sohn eines Adligen und einer Sklavin, der Söldner war; hier tritt uns eine Persönlichkeit entgegen, die sich von damals geltenden Normen befreit: Es bekümmert Archilochos von Paros nicht, dass er seinen Schild im Kampf verloren hat, und nüchtern schätzt er Beliebtheit im Leben höher ein als den Ruhm nach dem Tode. Ohne Zurückhaltung greift er mit glühendem Zorn Mitmenschen an, die ihn enttäuscht haben, wie er andererseits seine Liebesverfallenheit schildert. Trotzdem sucht er angesichts widersprüchlicher Lebenserfahrungen eine ausgeglichene Haltung zu finden. Diesem Problem, dass Menschen Wesen mit unerwartet schnell wechselndem Geschick sind, tritt etwas später Semonides von Amorgos in seinen Jamben und Elegien weitaus pessimistischer entgegen. Nicht nur in deutlichem zeitlichem Abstand (er lebte gegen Ende des 6. Jahrhunderts), ist hier Hipponax aus Ephesos zu nennen, den große Armut bedrängte; dieses kümmerliche Leben schildert er mit rücksichtsloser Direktheit ohne Einbettung in eine umfassendere Deutung.
 
Im 7. Jahrhundert lebten und dichteten die Elegiker Kallinos von Ephesos und Tyrtaios, der in Sparta wirkte. Die zur Flöte vorgetragenen elegischen Distichen mögen - nach Aussage antiker Gelehrter - mit der Totenklage zusammenhängen, doch haben sie bei ihnen wie bei anderen Elegikern Themen der politischen Öffentlichkeit zum Inhalt. Von beiden sind uns massive Ermahnungen an die jungen Männer zum Kampf für die Stadt überliefert. Bei Tyrtaios mischen sich in die Ermahnung zum Kampf auch erotische Züge. In eine andere Sphäre gelangen wir mit den Elegien des Mimnermos von Kolophon; bei ihm tritt die Klage über den Verlust der Liebesfreuden der Jugend und die Nachteile des Alters stark in den Vordergrund. Eine inhaltlich völlig andere Prägung zeigen die Elegien des Theognis von Megara (der um einiges später anzusetzen ist). Verzweifelt kämpft er für den Erhalt der alten Werte, besonders die ererbte Tüchtigkeit; es entspricht dem Werte setzenden Charakter der Elegie, dass zahlreiche Vorschriften dieser Sammlungen an einen Knaben gerichtet sind. In Solon tritt uns schon um die Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert der erste attische Dichter mit Elegien, Tetrametern und Jamben entgegen. Zu seiner Zeit wurde Athen von schweren sozialen Unruhen erschüttert. Die streitenden Parteien einigten sich auf Solonals Schiedsrichter. Seine Elegien zeugen von Patriotismus, vor allem aber von tiefer Reflexion über den Menschen und (wie auch bei Hesiod) über dessen moralische Bindungen im Rahmen der Gemeinschaft.
 
Von der Insel Lesbos stammen neben Terpander Arion, Alkaios und die Lyrikerin Sappho ; sie dichteten in dem auf der Insel gesprochenen äolischen Dialekt. In den uns erhaltenen Fragmenten bringt Alkaios die Facetten des ihn umgebenden politischen Geschehens, so seine Verbannung, wie auch die andere Seite adeliger Lebensform, das Männergelage mit der Aufforderung zum Trunk angesichts der Endgültigkeit des Todes, mit großer Anschaulichkeit zum Ausdruck; die Gefährdung der politischen Gruppierung, der er angehörte, malt er mit dem Bild vom Schiff in Seenot, das bis heute als Bild vom Staatsschiff weiterlebt. Einblicke in einen ganz anderen Bereich adligen Lebens zur selben Zeit gibt uns Sappho. Sie dürfte verheiratet gewesen sein; ihre Tochter Kleis besingt sie voller Zuneigung. Als Frau sieht und liebt sie die jungen Mädchen aus adligen Häusern, die sie, wie andere Frauen auf Lesbos, in ihrem Kreis um sich scharte und denen sie jene Lebensformen vermittelte, die sie später in der Ehe verwirklichen sollten.
 
Sapphos Gedichte waren überwiegend Einzellieder; sie geben Kunde von den starken Gefühlen, die ihren der Göttin Aphrodite zugewandten Kreis verbanden und die sie selbst vielfältig und intensiv erfuhr. Davon spricht sie sehr unmittelbar in ihren Versen. Ihr Erleben ist in die Natur mit Himmel, Gestirnen und Wolken, mit Bäumen und Blumen eingebunden, auch Landschaften lässt Sappho ihre Liebe widerspiegeln. Zu den Dichtern von Lesbos kann man auch den Ionier Anakreon aus Teos, Mitte des 6. Jahrhunderts, stellen. Seine sehr anmutigen Gedichte gehen von der Situation des Symposions, des Gastmahls, aus. Vor uns entfaltet sich ein sehr kultivierter Lebensstil ohne ernsthafte, die Persönlichkeit erschütternde Probleme. In späterer Zeit hat man Anakreon nachgeahmt, ohne seine Anmut zu erreichen; diese Gedichte werden unter der Bezeichnung »Anacreontea« zusammengefasst.
 
Das Chorlied war von Anfang an mit kultischem Fest und Gesang verbunden; das Aufstellen und Einüben eines Chores bedeutete einen entsprechenden Aufwand, den adlige Herren bewusst zur Schau stellten. Der Chor sang zu einem Saiteninstrument und auch zur Flöte. Leider weiß man nur wenig über die Musik, die jeweils erklang. Chorlyrische Texte, unter anderem Partheneia, Jungfrauenlieder zum Fest der Artemis, sind zuerst von Alkmanerhalten, der in Sparta im 7. Jahrhundert in dorischer Sprache dichtete; seither sind dorische Sprachelemente kennzeichnend für die Chorlyrik -, auch für die Chorlieder der attischen Tragödie. Bleibende Bestandteile sind das Heranziehen des Mythos, Gliederung durch Sentenzen und der Bezug zur aktuellen Feier. Nur sehr wenig ist von Stesichoros erhalten, der aus Unteritalien stammte und auf Sizilien wirkte; er hat sehr breite epische Passagen in seine Chorlyrik aufgenommen. Aus Unteritalien kam im 6. Jahrhundert Ibykos an den Hof des Tyrannen Polykrates von Samos. Er brachte erotische Züge in den Chorgesang ein. Simonides von der Kykladeninsel Keos wirkte bis weit ins 5. Jahrhundert hinein an den Tyrannenhöfen in Athen, Thessalien und Syrakus. Er dürfte das Epinikion, das Lob eines Siegers bei sportlichen Wettkämpfen, sowie den Threnos, den Trauergesang, in die Chorlyrik eingeführt haben. Aus den Fragmenten seiner vielfältigen Dichtung ergibt sich das Bild eines Denkers, der die geltenden Werte der Adelsgesellschaft nüchtern umgewichtet.
 
Pindar aus dem böotischen Kynoskephalai bei Theben vertrat dagegen uneingeschränkt die Werte des griechischen Adels; er erlebte die Perserkriege, aus denen das ehemals perserfreundliche Theben geschwächt, das demokratische Athen aber als die Vormacht der mutterländischen Griechen hervorging. Pindars Freunde waren die adligen Herren besonders auf Ägina und an den Fürstenhöfen auf Sizilien und in Kyrene. Er hat viele Arten chorlyrischer Dichtung geschaffen: Götterhymnen, Paiane (Apoll gewidmet), Dithyramben (an Dionysos), Prozessionslieder, Jungfrauen- und Tanzlieder, Preislieder, Trauer- und Siegesgesänge (Epinikien); nur diese letzteren sind uns in vier Büchern der antiken Ausgabe fast vollständig erhalten. In ihnen wird der errungene Wettkampfsieg als die erneute Realisierung altererbter Tüchtigkeit der Familie und der Heimat des Siegers angesehen; zu dieser Situation hebt der Dichter Vorbilder im Mythos, der ihm als Maßstab gilt, hervor. Pindars anspruchsvolle Sprache zeigt kühne Fügungen, Bildmischungen und Reihungen tiefsinniger Sentenzen. Gegenüber diesem schwierigen Dichter bietet Bakchylides von Keos, der Neffe des Simonides, Epinikien und andere chorlyrische Gedichte von größerer Gefälligkeit und Geschmeidigkeit; in den mythischen Teilen seiner Epinikien entfaltet er sein großes Erzähltalent. So hat er, nicht Pindar, des Hieron II. von Syrakus Sieg mit dem Rennwagen in Olympia 468 v. Chr., den höchst geschätzten Sieg, besungen.
 
Prof. Dr. Hans Armin Gärtner und Dr. Helga Gärtner
 
 
Fränkel, Hermann: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik und Prosa bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts. München 41993.
 Lesky, Albin: Geschichte der griechischen Literatur.Bern u. a. 31971. Nachdruck Bern u. a.. 1993

Universal-Lexikon. 2012.

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